Die größte EM-Enttäuschung ist plötzlich Mitfavorit auf den Titel!
Nach dem EM-Fehlstart mit zwei Unentschieden schaffte Spanien die Tor-Explosion, ist mit elf Treffern jetzt das torgefährlichste Team des Turniers. In BILD erklärt Welt- und Europameister Joan Capdevila (43), was für Spanien jetzt wirklich drin ist und warnt vor zu viel Arroganz gegen die Schweiz.
BILD: Señor Capdevila, am Dienstag vor 13 Jahren haben Sie mit Spanien die Europameisterschaft geholt. Wie sehen Sie nach dem 5:3 über Kroatien die Chancen der aktuellen Generation, den Coup von 2008 zu wiederholen?
Joan Capdevila: „Ebenso gut wie die der sieben anderen Teams im Viertelfinale. Wir haben alle exakt dieselben Chancen auf den Titel. Mit dem Kroatien-Sieg und den zehn Toren der letzten beiden Spiele haben wir uns den Torriecher die Hoffnung zurückgeholt. Klar, jetzt können wir träumen! Aber mit Respekt vor wirklich jedem Gegner und ohne voreilig an ein Finale zu denken. Sonst fahren wir im unerwartetsten Moment nach Hause!“
BILD: Vor nicht einmal zwei Wochen sprach man in Spanien noch vom Gruppen-Aus...
Capdevila: „Das ist Spanien! Da ging die Kritik schon vorm Turnier los: Uns fehlt die Torgefahr, der Kader von Luis Enrique passt nicht, unser Spiel ist nichtssagend... Nun stehen wir mit elf Treffern im Viertelfinale und Enrique ist plötzlich der Beste. Ich mag Analysen nach dem Turnier lieber. Ich habe unserem Spiel immer vertraut, aber Geduld ist eben keine Stärke von uns Spaniern (lacht).“
BILD: Was ist im spanischen Spiel besser geworden?
Capdevila: „Der Fußball ist derselbe. Viele sehen es anders, aber mir hat das schon gegen Schweden super gefallen. Da haben wir ein großartiges Spiel gemacht, nur der Abschluss passte nicht. Wären wir da mit einem 4:0 in die EM gestartet, hätte das nicht verwundert. Wir haben immer viel Ballbesitz und jede Menge Chancen. Was viel besser geworden ist, ist der Abschluss. Bei welcher Nationalmannschaft haben sechs verschiedene Jungs getroffen? Das zeigt, wie offensivstark wir tatsächlich sind.“
BILD: Das Quer-Geschiebe störte Sie nie?
Capdevila: „Das Vertikalspiel ist schlicht nicht unsere Stärke, sondern das Management von Ballbesitz, mit dem wir den Gegner körperlich und mental ermüden. Das klappt für uns seit der EM 2008, da interessiert es nicht, ob es dem Publikum missfällt. Gewinnst du ein Turnier, fragt dich danach keiner, wieso du 100 Pässe horizontal und nur zwei vertikal gespielt hast.“
BILD: Wie wichtig ist Busquets' Rückkehr für die erfolgreiche Umsetzung dieser Philosophie?
Capdevila: „Es hieß, wir hätten keinerlei Anführer. Mir Sergio haben wir jetzt einen Leader. Es ist das Puzzle-Stück, das dieser Truppe fehlte. Er war der MVP der beiden letzten Spiele und ist spielerisch und charakterlich ein Vorbild für dieses junge Team.“
BILD: Wird er Ihnen international ausreichend wertgeschätzt?
Capdevila: „Er wird wohl erst nach seinem Karrierende wirklich genug wertgeschätzt werden. Seine Statistiken stehen mit seinen 32 Jahren nicht zur Diskussion. Dennoch sollte eine Legende wie er vielleicht mehr respektiert werden. Angefangen bei den Spaniern, aber auch weltweit. Diesen verdienten großen Respekt wird er spätestens dann erfahren, wenn er seine Schuhe an den Nagel hängt und sein Fußball vermisst wird.“
BILD: Was halten Sie von seinem jungen Mittelfeld-Partner Pedri?
Capdevila: „Dieser Junge wird eine Ära prägen. Wenn ihn nichts und niemand kaputt macht, wird er ein Idol für den spanischen, aber auch den internationalen Fußball werden! Die Diskussion, ob ihn Spanien überlastet, indem er nach einer langen Barça-Saison die EM und dann auch noch Olympia spielen soll? Er ist jung und hat einen unbändigen Hunger – das muss man ausnutzen. Möglich, dass es Barça nicht gefällt, aber an Olympischen Spielen nimmt man nicht alle Tage teil. Und wenn die U21 ihn braucht und Pedri sich gut fühlt: Lasst ihn uns genießen!“
BILD: Wird Spanien nach seinem Tor gegen Kroatien auch den arg kritisieren Morata endlich genießen können?
Capdevila: „Ja! Ich glaube, Morata wird noch in Schlüsselmomenten dieser EM auftauchen. Die Pfiffe wie in Sevilla deprimieren. Doch das ist Teil seines Jobs, er kann das handhaben. Ein Profi muss da drüberstehen. Mit dem entscheidenden Treffer gegen Kroatien hat er den ersten Schritt geschafft.“
BILD: Verstehen Sie die Kritik an Luis Enrique?
Capdevila: „Das ist kurios. Er hat nun zwei Spiele gewonnen und zack, waren die Kritiken weg. Jetzt heißt es, dass er doch Recht hatte, dass er der Beste ist. Scheiden wir aber an der Schweiz, wird es allein seine Schuld und er der Schlechteste sein... Die Meinung ändern sich binnen 90 Minuten, da ist der Fußball unfair. Ich meine, Enrique formt gerade etwas Wichtiges. Wenn nicht jetzt, wird Spanien in zwei drei Jahren wieder mit den Größten mitmischen.“
BILD: Sehen Sie charakterlich Ähnlichkeiten zwischen Enrique und Spanien-Legende und Europameister-Coach Luis Aragonés?
Capdevila: „Das kann tatsächlich sein, ja. Wie Aragonés ist es Enrique total egal, was andere sagen. Er ist sich mit seiner Marschroute so sicher und steht über anderen Meinungen. Das ist gut, ein solcher Leader überzeugt einen Spieler früher oder später – so, wie es Aragonés mit uns gemacht hat. Enrique ähnelt Aragonés, was das so selbstsichere und überzeugende Auftreten angeht, das sogar etwas aggressiv scheinen kann.“
BILD: Wie sollte Enrique das Schweiz-Spiel vorbereiten?
Capdevila: „Das Mentale wird fundamental! Aktuell scheint es, als wäre alles wunderbar, aber Lob macht auch schwach. Es muss darum gehen, dass die Jungs am Boden bleiben und nicht glauben, dass die EM mit den letzten beiden Spielen schon gewonnen ist. Zu glauben, der Weg ins Finale wäre durch das Frankreich-Aus leichter, wäre ein großer Fehler. Für Favoriten-Gehabe und Überheblichkeit gibt es die Quittung, wie sie Frankreich bekommen hat. Trotz unserer Favoritenrolle müssen wir mehr rennen als die Schweiz, wird das Weiterkommen sehr schwer. Wir müssen schon beim Aufwärmen Blut in den Augen haben!“
BILD: Und taktisch?
Capdevila: „Spanien wird das Spiel sicher dominieren, muss aber aufpassen, es nicht aufgrund leichter Fehler wie dem Torwart-Patzer gegen Kroatien aus der Hand zu geben. Die Schweiz wird brutal motiviert auf so etwas warten, um zuzubeißen. Die Konzentration wird wichtiger als das Taktische.“